Indien – Religionsformen

Kultur der Toleranz? – Ganz persönliche Eindrücke und Gedanken

Indien wurde vor allem durch seine Religionen geprägt. Feldherren und Helden, die üblichen Geschichtsgrößen, stehen da eher im Hintergrund. Man sieht wesentlich mehr Statuen und Reliefs von Göttern, als von Helden und Schlachten. Wenn man Indien als Kulturland bereist, ist es deshalb wichtiger sich etwas mit Religionen zu befassen, als mit Details der Geschichte. Die Sache ist dann auch besser überschaubar.

Hinduismus

Ca. 80% aller Inder sind Hindus. Der Hinduismus ist eine Ur- und Naturreligion mit Vielgötterhimmel, entstanden aus dem Bedürfnis der Menschen nach Schutz. Wie auch in antiken europäischen Religionen suchte man sich für seine Probleme – Naturkatastrophen, Missernten, ausbleibender Kindersegen etc. – die entsprechenden Gottheiten, von denen man glaubte, dass sie Unheil abwenden und gutes fördern könnten. Diese Götter wurde durch die Phantasie der Menschen über Generationen hinweg entwickelt und weiterentwickelt. Eines Religionsstifters bedurfte dies nicht.

Um die Götter anbeten und ihnen opfern zu können, womit man sie friedlich und Hilfsbereit stimmen wollte, formte man sie aus Holz und Stein. Die Göttergestalten sind, wie sollte es auch anders sein, menschenähnlich, mit Details aus der Tierwelt und phantasievollen Ergänzungen. Auch das Zusammenleben und die Geschichte der Himmelsgestalten ist am Menschen orientiert, selbstverständlich mit übernatürlichen Variationen.

Die dies bezüglichen handwerklichen Arbeiten – mit viel Liebe zum Detail ausgeführt – und die große Phantasie der Künstler, können den Betrachter immer wieder ins Staunen versetzen. Die aufwendigen Tempelbezirke und die einfachen Hütten der Landbevölkerung bilden einen unübersehbaren Kontrast. Es bedurfte wohl großer Religiosität, dies als gut und richtig zu empfinden, und in solcher Art aufzubauen.

Beim Hinduismus wird nicht missioniert, sondern integriert. Eine Religions- und Lebensform großer Toleranz. Liebe hat einen höheren Stellenwert als Kampf. Jeder opfert dem Gott, von dem er sich die Lösung seiner Probleme erhofft. Wer den geeigneten Gott nicht findet, kann sich notfalls auch seinen eigenen Gott mitbringen. Ein Buddha oder ein Christus in einem Hindutempel ist nichts Unmögliches.

Eine Schattenseite des Hinduismus ist das Kastensystem. Dieses System ist, ähnlich dem glücklicherweise überwundenen Feudalsystem in Europa, vor allem als eine erbliche Privilegien Sicherung der oberen Kasten zu verstehen. Die Kasten sind zwar per Gesetz abgeschafft, aber praktisch bedeutet das nicht viel.

Die Hindus der verwaltungs- und handwerksorientierten Kasten, nutzen ihren Bildungsvorsprung und ihr Beziehungsgeflecht, wie das der menschlichen Natur entspricht, zum Erhalt ihrer Stärke gegenüber den unteren Bevölkerungsschichten, den Kastenlosen.

Bei den Brahmanen, der Priesterkaste, wird die Entwicklung voraussichtlich etwas anders ablaufen. Die haben das Arbeiten nie gelernt über Generationen. Die Gläubigen haben ihnen die Spenden und Opfergaben – meist in Form von Naturalien – freiwillig gebracht, ohne Steuerbescheid. Vorläufig hocken die Priester noch in großer Zahl in den schattigen Ecken ihrer Tempel. Aber die Spenden fließen wohl schon weniger üppig, zumindest nicht mit einer dem allgemeinen Fortschritt angemessenen Zuwachsrate.

Die Leute in den Industriebetrieben verändern ihre Interessenlage. Viele von ihnen wollen sich auch ihr derzeitiges Leben verschönern, und dies mit wachsendem Qualitätsanspruch. Die Sache mit dem nächsten Leben steht bei denen nicht mehr so hoch im Kurs. Z.Zt. sind die Touristen ein neues Erwerbspotential für die Priester, und das mit Zuwachsraten. Ich glaube aber nicht, dass das über Generationen hinweg ein Dauerbrenner bleibt.

Über die historisch und künstlerisch besonders wertvollen Tempel hält inzwischen der Staat seine Hand. Dort wird Eintritt erhoben und mit dem Geld restauriert. Das heißt, das Geld fließt in die Taschen von Technikern und Handwerkern. Das ist gut so, aber nicht einträglich für die Priester. Es ist anzunehmen, dass mit dieser Entwicklung langfristig ein gewisser sozialer Abstieg dieser ehemals obersten Kaste einhergeht.

Die Startpositionen der ehemals kastenlosen sind schlecht. Sie haben keine Lobby. Erschwerend wirkt sich auch der Glaube an das Karma, das vorbestimmte Schicksal aus. Eine Verbesserung erhofft sich der strenggläubige Hindu, gute Lebensführung mit entsprechenden Opfergaben vorausgesetzt, erst für sein nächstes Leben. Hindus glauben an den ewigen Kreislauf von Wiedergeburten, wie das in vielen asiatischen Religionen der Fall ist.

Mit dieser Einstellung verlieren Leistung und Qualifikation ihren Sinn. Die Vorsorge für das nächste Leben, das heißt Religiosität und Opfergaben, erscheinen als wichtiger. Erst wenn sich dieses Denkschema langsam auflöst, wenn die unteren Bevölkerungsschichten ihre Möglichkeiten ausschöpfen, ihr Schicksal selber in die Hand nehmen, werden die Kasten auch aus den Köpfen verschwinden. Dann wird man der Chancengleichheit etwas näherkommen.

Unlogisch ist ein gewisser Zulauf zu den Kommunisten. Wieso sollten die das Karma des Einzelnen ändern können? Oder hat das Umdenken bei einigen schon begonnen? Fehlt nur das Selbstvertrauen? Es ist den Menschen zu wünschen, dass sie keinen Rattenfängern auf den Leim gehen, dass sie nicht auf Illusionen hereinfallen, dass sie irgendwann ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen.

Buddhismus und Jainismus

beide vor ca. 2500 Jahren entstanden

In diesen beiden Religionen ist die Abschaffung des Kastensystems das revolutionäre Element. Beide Religionen kennen in ihrer Ursprungsform keinen Gott, und beide suchen die Erlösung aus dem, vom Hinduismus übernommenen Kreislauf der Wiedergeburten.

In beiden Fällen gibt es Religionsstifter. Für den Buddhismus ist das der nordindische Prinz Siddharta, später Buddha – der Erleuchtete – genannt. Für den Jainismus ist es Mahavira, auch Jain – der Sieger – genannt, ein Prinz aus der Ganges Ebene. Wahrscheinlich gab es nur für Menschen aus den oberen Schichten die Möglichkeit am Kastensystem zu rütteln.

Buddha sah alles Leben als leidvoll an, leidvoll vor allem durch ständiges Begehren. Er betrachtete das Ausscheiden aus dem Kreislauf der Wiedergeburten und den Eingang ins Nirwana als Befreiung von diesem Leid. (Ich würde das Wort Nirwana in vereinfachter Form als Selbstauflösung definieren)

Im Lauf der Zeit hat sich der Buddhismus in verschieden Richtungen aufgesplittet. Im Himalaya Gebiet ist daraus der Lamabuddhismus, auch Lamaismus genannt, entstanden. Dieser ist mit zahlreichen Dämonen und Göttern aus der Hindu- und Vorhindureligion überlagert. Es wird wieder gebetet und geopfert. Die Ursprungsform ist wohl kaum noch zu finden. Die Finanzierung läuft über Tempelspenden, die nicht angemahnt werden. Entsprechende Boxen sind aufgestellt. Gelegentlich wird auch Eintrittsgeld erhoben.

Beim Jainismus ist die Lehre ähnlich. Es werden nur andere Formulierungen und Begriffe verwendet. Von großer Bedeutung ist für die Jains das Gebot der Nichtzerstörung jeden Lebens. Das macht sie zu absoluten Vegetariern. Strenggläubige Jains tragen Mundbinden, um nicht versehentlich kleine Insekten einzuatmen. Die meisten Jains haben es zu Wohlstand gebracht, obwohl das nicht ganz ihrer Grundtheorie entspricht.

Der Buddhismus hatte sich unter König Ashoka (272 – 231 v.Chr.) über fast ganz Indien ausgebreitet. Im achten Jahrhundert entwickelten die Brahmanen, im Streben nach alten Privilegien, den Hinduismus neu. Buddha und auch Vorhindugottheiten wurden integriert. Motto: Glaube an wen du willst, aber komme dazu möglichst in unsere Tempel, opfere und spende bei uns. Die Brahmanen hatten Erfolg und bekamen ihre Vormachtstellung zurück. Heute haben die Buddhisten in Indien, dem Ursprungsland ihrer Religion, nur noch ca. 1% Bevölkerungsanteil.

Die Jains haben nie eine große Ausbreitung erfahren. Ihr Bevölkerungsanteil beträgt 0,5%. An Tempelspenden sind die Jains nicht interessiert.

Parsismus

Der Parsismus ist ein arisch- monotheistischer Religionsimport. Die Parsen stammen aus Persien und kamen auf der Flucht vor den Moslems nach Indien. Ihr Religionsstifter ist Zarathustra. In Indien gibt es nur noch ca. 200 000 Parsen. Sie wohnen vorwiegend im Gujarat und in der Gegend von Bombay.

Islam, Christentum und Judentum

Auch die drei monotheistischen Religionen mit semitischem Ursprung sind importiert. Religionsstifter sind hierbei Mohammed, Jesus und z.T. Moses.

Der kulturelle Einfluss des Islam ist vielerorts sichtbar. Das Christentum beschränkt sich auf einige ehemals koloniale Zentren im Küstenbereich. Die Juden bilden eine unauffällige Minderheit. Der Bevölkerungsanteil der Moslems beträgt 11%, d.h. zweitstärkste Gruppe nach den Hindus, Christen 2,5%, Juden ca. 12.000.

Sikhismus

Der Sikhismus entstand auf indischen Boden als Synthese zwischen Hinduismus und Islam. Grundgedanke war der Ausgleich zwischen Hindus und Moslems. Man verehrt, ähnlich den Moslems, einen unsichtbaren Gott. Religionsstifter ist Guru Nanak (1469 bis 1538 n.Chr.)

Die Sikhs stellen ca. 2% der indischen Bevölkerung. Etwa die Hälfte von Ihnen leben im Punjab, im Grenzbereich zwischen Hindus und Moslems. Dort steht auch ihr Hauptheiligtum, der goldene Tempel von Amritsar. Das Kastensystem der Hindus lehnen sie ab. Bei den Sikhs gibt es keine Priester. Ihre Tempel entstehen durch freiwillige Arbeitsstunden, die jeder Gläubige mindestens einmal in seinem Leben leistet.

Govind Singh, der zehnte und letzte Guru der Sikhs, machte aus der ursprünglich pazifistischen Gemeinschaft eine Wehrgemeinschaft, vor allem gegen die Übergriffe der Moslems. Man hatte sich bereits ab dem 6ten Guru gelegentlich zur Wehr gesetzt. Die Sikhs empfinden sich zudem als Sozialgemeinschaft. Die Sikhs sind stolz auf ihre Gemeinschaft. Tempelspenden lehnen sie ab.

Zusammenfassung

Die Gläubigen der drei kleinen Religionsgemeinschaften, Parsen, Jains und Sikhs haben es zu relativem Wohlstand gebracht. Sie sind meist intelligent, handwerklich geschickt und zuverlässig. sie begleiten wichtige Ämter in der Wirtschaft, aber auch beim Staat. Die Masse der Hindus wird durch ihr Kastendenken im Fortschritt behindert. eine kleine Oberschicht dagegen, hat extrem abgehoben.

Bei den Buddhisten ist bisher nur in Einzelfällen ein sehr bescheidenes Wohlstandsstreben erkennbar. Sie sind in ihrer Denkweise auch ohne materielle Güter recht glücklich. Strenggläubige Buddhisten strahlen eine große Ruhe aus. Mir ist seit jeher unklar, weshalb man Religionen die, wie Buddhisten, Jains und auch die chinesischen Konfuzianer, ohne Gott auskommen, nicht als atheistisch bezeichnet.

Auf den Betrachter wirken die indischen Verhältnisse chaotisch und beruhigend zugleich. Die krassen Gegensätze sind kaum zu überbieten. Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft trifft man fast überall an. Gelegentlich geht die Hilfsbereitschaft auch bis zur Aufdringlichkeit, manchmal mit Geschäftssinn im Hintergrund.

Abstoßend wirken die Gruppen der schnellen Geschäftemacher, die sich auf die bekannten Ankunftspunkte der Touristen konzentrieren. Das kann man aber schnell abschütteln indem man die ersten 300 Meter in konsequenter Abwehrhaltung und im Eilschritt hinter sich bringt. Danach ist alles wieder gemütliche indische Normalität.

Vieles ist unlogisch und bleibt auch undurchschaubar. Vieles ist Hokuspokus. Ich denke es gibt bei allen, oder zumindest fast allen Religionen, diejenigen die für die Religion leben, und eine kleine Gruppe die von der Religion lebt. Die Religionsstifter haben das sicher anders gesehen. Es waren Revolutionäre und Idealisten, von ihrer Vision durchdrungen, deren einziges Anliegen es war diese Vision zu vermitteln. Meist lebten sie in einfachen Verhältnissen. Sie brachen dabei auch überkommene religiöse Strukturen auf.

Wie bei fast allen von Menschen gegründeten Gemeinschaften, begann unter den Nachfolgern der Aufbau neuer Hierarchien. Die Sicherung für eine mehr oder weniger gute Lebensgrundlage der Führungsschicht? Das ist in Indien genauso wie überall woanders. Jesus war auch nicht der Erfinder der Kirchensteuer, um das mal ganz simpel auszudrücken. Eine Ausnahme bilden die Sikhs, bei denen es weder Priester noch irgendeine sonstige Führungsschicht gibt.

Zusammenleben der Religionsgemeinschaften

Es ist bewundernswert wie friedlich die einzelnen Religionsgruppen und Völkerschaften, mit diversen Sprachen und Schriften, in der riesigen, chaotisch geordneten indischen Demokratie zusammenleben. Alle Menschen haben große Freiheitsspielräume, und dennoch gibt es ein, wie ich meine, intaktes System von Ordnungshütern. Im Bedarfsfall, aber auch nur im wirklichen Bedarfsfall, greifen die auch wirksam durch.

Die kleinen durch Scharfmacher geschürten Reibereien wie z.B. in Kashmir und im Punjab sind Ausnahmefälle. Die Rattenfänger haben keine Mehrheit gefunden. Es ist zu hoffen, dass das so bleibt. Indien ist groß. Ich finde die religiöse Vielfalt sehr interessant. Dabei habe ich nicht das Bedürfnis den Stein der Weisen zu finden. Ich bin nur neutraler Betrachter.

Als logische Schöpfungstheorie empfinde ich den Urknall. Da entfällt die Frage:

„Wer hat den Schöpfer geschaffen?“ Ob diese Theorie richtig ist, weiß ich nicht. Das macht mir kein Kopfzerbrechen. Aber insg. ist das sehr nüchtern. Die alten Religionen bieten dem Betrachter mehr. Schließlich waren sie für lange Zeit die Triebfeder der großen Kulturen, waren Genialität und Wahn zugleich, wenn man bei allem den Untergang der Inkas, Menschenopfer, Hexenverbrennungen und vieles andere nicht vergisst. So sind nun mal die Menschen.

Alle Religionen haben eine Art Erlösung als Endziel, manche mit, manche ohne Gott. Was mich vom religiösen Menschen unterscheidet ist, dass ich keine Erlösung suche. Wozu Erlösung und von was? Ich finde mein Leben auf diesem wundervollen Planeten so schön, dass ich mir nichts schöneres vorstellen kann. Ich habe meine ganz persönliche Lebensphilosophie, ohne Vordenker, der Rest ist Charaktersache.

Harry Rost, geschrieben 1992